Das Morris Rosenfeld-Buch

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Das Morris Rosenfeld-Buch

Von Adolph Donath

Man sieht diesem Werke mit grösster Spannung entgegen. Im Laufe dieser Tage schon soll es erscheinen, und wir glauben, es wird ein kiinstierisches Ereignis sein, vielleicht ein sehr grosses. Seine Tragweite lässt sich heute kaum ermessen. Aber eins ist gewiss: die Leute werden darüber herfallen, um sich selbst in den Poesien Morris Rosenfelds wiederzufinden. Und das ist gut. Die Mensehen mögen nur fühlen, wie ein gottbegnadeter Dichter, der sich im Arbeitsrocke an der Maschine um einen Bissen Brot quälen und schinden muss , Menschen darstellt und trotz Kummer und Not an eigener geistiger Schönheit genug der Hoffnung und Sonne geniesst.

Von den Lebensverhältnissen Rosenfelds und seinen gewaltigen dichterischen Qualitäten ist an dieser Stelle öfters gesprochen
worden. Es gilt also nicht, einen neuen Mann zu “entdecken”. Festhalten müssen wir ihn: das ist unsere Pflicht. Denn Morris Rosenfeld ist nicht nur der grösste Dichter des Judentums von heute, sondern auch einer der grössten Dichter der Weltliteratur überhaupt. Wir dürfen dies getrost behaupten. Als Beweis hierfür dienen seine “Lieder des Ghetto”.*) Berthold Feiwel hat sie aus dem Jargon ins Deutsche übertragen. Ganz abgesehen von dem ungeheuren Fleisse, den er dabei aufwandte und der unser vollstes Lob verdient, ist es erfreulich , dass ihm die gewiss sehr schwierige Uebersetzung der Rosenfeld’schen Poesien meisterhaft geglückt ist. Ein feinfühliger Uebersetzer muss selbst ein feinfühliger Poet sein, da Geschick und Fleiss gewissermassen nur äussere Hilfsmittel sind. Und Feiwel ist ein Poet, voll kerniger Frische und kräftiger Empfindung. Man lese
nur die Vorrede, die er dem Buche widmet. Sie ist selbst, in ihrem ersten Teile wenigstens, ein edles Gedicht in Prosa, schlicht, aber vom Herzen kommend und zu Herzen gehend. Ihr zweiter Abschnitt ist vorwiegend sachlicher Natur. Hier veranschaulicht nämlich Berthold Feiwel die Bedeutung der “jüdischen” Sprache, des sogenannten “jüdisch-deutschen Jargon” (zum Unterschiede von anderen jüdischen Mundarten). “Es ist eline Sprache,” sagt er, “so gut wie eine andere, die vielleicht nur dem Ohr des Deutschen missfällig klingt, der ungern Laute seiner Sprache korrumpiert und in bunter Gesellschaft mit allerhand fremden Elementen vorfinden mag.” Feiwel weist auch darauf hin, dass diese Sprache die kostbarste Fundgrube für den vergleichenden Sprachforscher, den Kulturhistoriker und Völker-Psychologen sei, und dass der national-jüdischen Bewegung das Verdienst gebühre, auch auf diesem Gebiete einem wertvollen Stücke Judentum ans Licht geholfen zu haben.

Die “Lieder des Ghetto” zerfallen in drei Teile: in Lieder der Arbeit, in Lieder des Volkes und Lieder des Lebens. Dem ersten Zyklus dieser Gedichte geht das Bild eines wackeren Arbeitsmannes voran, das E . M . Lilien gezeichnet hat. Es ist das Porträt von Liliens Vater, der bekanntlich ein Drechsler ist. Auch er bleibt, wie Morris Rosenfeld, “der Sklave, der seufzt, und der Sklave, der stöhnt”. Wie E. M. Lilien den markigen,
intelligenten Gesichtsausdruck des jüdischen Arbeiters zeich¬
nerisch wiederzugeben weiss , wie er gleichsam dem Manne die
Seele ins Gesicht drückt , scheint wunderbar . Und wie er dann
zu jedem einzelnen Gedichte eanen originellen künstlerischen
Randschmuck findet , indem er den aus dem Poem hervorquellen¬
den Grundton förmlich mit seinem Stifte packt und in ungemein
zarte und weiche Linien umsetzt , das zeugt von der immer mäch¬
tiger werdenden Gestaltungskraft seiner Kunst , die uns schon
lange so lieb und wert geworden ist . Dazu kommt noch , dass
Lilien oft den Dichter ergänzt , indem er dessen Gedanken im
Bilde zuspitzt , als wollte er die Pointe erwirken . Da singt z . B .
Rosenfeld von einem blassen Gesellen , der an der Nähmaschine
sitzt und Kleider näht , die schwer von Tränen sind . Und der
blasse Geselle frägt :
Wer kündet grause Zukunft mir ?
Wie lange der bleiche Mann
Noch jagen mag das furchtbare Rad ?
Wer weiss das Ende , sagt an ?
Ich weiss es nicht . Doch weiss ich wohl :
Wenn den — ob früh , ob spät —
Die Arbeit erschlägt — sitzt ein andrer da
Und näht und näht und näht . . . .
Zu dieser tiefen Weise , die zu den herrlichsten sozialen
Volksliedern zählt , zeichnet Lilien das folgende Bild : Wir sehen
den bleichen jüdischen Arbeitsmann , dessen Züge von Leid und
Reue durchfurcht sind , an der Nähmaschine sitzen , während
hinter ihm der „ Arbeitgeber ” steht , ein wohlbeleibter Herr , mit
Goldketten und Ringen „ geziert ” , zwischen den wulstigen Lippen
eön Saugrohr haltend , dessen Ende mit einem spitzen Haken ver¬
sehen ist . Der bohrt sieh aber in den Nacken des blassen Ge¬
sellen . . . .
Der zweite Zyklus : „ Lieder des Volkes ” birgt eine unend¬
liche Fülle lyrischer Schönheit in sich . Es fällt einem wirklich
schwer , dem einen oder anderen dieser Gedichte einen besonderen
Vorzug einzuräumen . Geradezu grandios ist die Dichtung
„ Sturm ” . Lilien bringt ein erschütternd schönes Bild dazu . Den
letzten Teil des Rosenfeld – Buehes bilden die gedankenreichen
Lieder des Lebens . Hier ist zu dem Gedichte „ Die Friedhofs – Nach –
tigall ” ein Bild beigegeben , das allerdings ergreifend wirkt , das
aber glücklicherweise nichts anderes bedeutet , als eine vollendete ,
übermütiger Künstlerlaune entstammende Federzeichnung : Auf
einem einsamen Friedhofe ragen drei Grabsteine hervor , dicht an
einandergeschmiegt , von Trauerweiden überschattet . Der mittlere
Stein trägt die hebräische Inschrift : „ Morris Rosenfeld :
Zion war die fiarfe seiner Lieder . ” Ihm zur Rechten liest man :
„ E . M . Lilien : Sagt , dass er eine Blume war , die in Zion
blühte . ” Und auf dem dritten Steine heisst es : „ Berthold
Feiwel : Er war ein Gipfel , der die Sonne Zions zuerst
grüs » te . w

*) Verlegt bei S. Calvary & Co., Berlin. Deutsche Üebersetzung von Berthold Feiwel. Reicher IllustrationSschmuck von E. M. Lilien.

S. 14-15. Online