Lieder des Ghetto (Allgemeine Zeitung)

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Lieder des Ghetto.*)

Von Stephan Zweig (Wien).

Jeder Spiegelfläche zeigt dieses eigenartige und schöpferische Buch eigene Gestalt, weil sich so viel fremde Welten in ihm erbaut und erschlossen. Es erzählt von einer Kultur mit dichterischer Wahrhaftigkeit, von der bisher nur verlorene und verfälschte Rufe zu uns herübergebracht wurden, es spricht in einer Sprache, die selbst noch nicht fester Bestand geworden ist, sondern als heißglühendes, gärendes, sich noch formendes Produkt durch die Hand seiner Dichter und Schöpfer geht; und dieses Werk ist das­jenige, mit dem zuerst ein solcher Meister einen Dialekt zur reinen Kunstform erhoben, hat und ist auch gleichzeitig das einzige Dichtwerk, das Uebersetzer fremden Kulturen zu übermitteln beginnen. Aber die Stimme dieses einzelnen
erzählt in diesem Buche auch Schicksale und Hoffnungen einer ganzen Nation und läßt den Traum ihrer Auf­erstehung sich in lodernden Farben und leuchtenden Bil­dern entfachen. Und wiederum ein erster, ein Initiator, ein Beginner, hat diese Lieder mit dem kostbaren Mantel einer neuen Kunst umhüllt…. Alles ist neu, sonderbar und eigenständig in diesem Zusammenwirken schöpferischer Kräfte, so daß man schwer in gewohnten Richtermaßen auf Schönheit und Geschick prüfen kann, sondern diesen Beginn als kulturelle Tatsache werten muß, als Abglanz fremder Kultur und als erstes Blatt im Buche ihrer Entwicklung.

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In diesen Versen hat der Begriff des Ghetto eine neue, traurige Gestalt gewonnen. Er hat die alten, vermorschten Fetzen abgeworfen, die über sein Elend einen matten Schimmer der Arme-Leut-Poesie breiteten und trägt den schmutzigen billigen Fabrikskittel des Proletariers. Nicht aus den verwickelten, fast süß dämmerhaften Ghettogassen, wie sie den Besuchern Prags und Antwerpens unvergeßlich sind, stammen diese Lieder, aus jenen altheimischen Gassen, in deren Stille man sich eintönige Grabgesänge und die traurigen Lieder verhärmter Kinder denkt; keine Romantik hat sie geschaffen, sie tönen aus einer menschenerfüllten, stickigen Arbeiterstube der Eity, wohin das Elend die hungrigen Scharen heimatloser Juden mit rauher Faust
gewiesen hat. In diesen modernen Großstädten Englands und Amerikas hat nicht das Stadtgesetz, sondern die Not ein Volk zusammengedrängt, dessen letztes Glück es ist, sich zusammenfinden zu dürfen — selbst im Elend — und dort seine Sprache zu sprechen, jenes seltsame Kauder­welsch, an dem sämtliche lebenden und toten Mundarten ihren Anteil haben.

Zwischen diesen Tausenden, die endlosen Wanderfron mit dem Joch der Fabriksarbeit vertauscht haben, lebt nun einer, der mit ihnen leidet und hungert, ob auch sein Name heute über die ganze gebildete Welt klingt, ob auch die hervorragendsten Geister fremder Nationen, wie Jaroslav Vrchlicky und andere, Sammlungen seiner Wecke übersetzen und herausgeben. Das ist Morris Rosenfeld, der
Dichter dieser jüdischen Proletarierlieder. Er ist Auto­didakt und mehr als dies: er hat -als erster diesen Jargon
zur Kultursprache geadelt, indem er ihn -mit vollklingenden,
dichterischen Schöpfungen fähig zeigte, nicht nur als gang­bare Umgangsmünze zu dienen, sondern auch als Prägstock
sein differenzierter und überquellender seelischer Stimmun­gen. Nur ungeheure Kraftsntfaltung gibt solche über­raschende Fähigkeit, eine alte Sprache in neue Geleise zu
führe»: entweder jener iinpetuöse Jnncndrang, der das
Genie kennzeichnet oder eine äußere Gewalt, die so drückend
lastet, chaß sich die Seele in Liedern ihr’cr entäußern Muß.
Rosenfeld hat erst das Schicksal zum Dichter geschmiedet
und in seinem Liede die eigene Grausamkeit gespiegelt:
Oh glaubt, kern goldenes Instrument
Stimmt meine Kehle znm Singen.
Oh glaubt, kein Wink von oben läßt
Meiner Leier Saiten erklingen.
Doch der Sklave, der seufzt und der Sklave, der stöhnt,
Erweckt in mir die Lieder
Und flammend erwacht in mir ein Saug
Für meine armen Brüder.
Menschenliebe und hcißcS Mitleid hat hier AlltagSgc-
schehnisse zu Versen geglüht. Für die anderen hat Rose’nfold
gesungen, imd zeigt er auf die eigenen Narben, die ihm die
Arbeit geschlagen, so weist er damit nur hin ans die Tau­sende, die gleiche Wunden tragen. In seiner Stimme
klingen unzählige mit, in seinem Schmerz glüht nur ein
Bruchteil des ganzen ProletarierleiüeS, und nur sein’
Sehnsucht ist größer und unbändiger als die der anderen^
Aber ihr Leben ist das seine: davon erzählt die Selbstbio­graphie, die er in einem seiner Briefe gibt: „Ich bin
boren am 25. Dezember 1862 in dem kleinen Städtchen
Bokscha in Russisch-Polen. Mein Großvater, mein Vater
und alle, die zu unserer Familie gebürten, waren Fischor^-
leute. Die kleine staöt liegt in einer lieblichen Gegend
zwischen Wald und See. Ich war noch ein Kind, als meine
Eltern nach Warschau ziehen mußten. Man schickte mich
zum „Cheder” und ich lernte den Talmud und ein wenia
Polnisch und Deutsch. Mit 18 Jahren heiratete ich und
ging nach Holland, wo ich durch sechs Monate die Diamaut­schleiferei lernte und betrieb. Von dort zog ich nach Eng­land; -hier arbeitete ich durch drei Jahre in den Sweat-
ShoPsZ von London. Ich fuhr dann nach-Amerika, wo ich ZiK
zum heutigen Tage verblieb. In den dumpfen, finsteren
Sweat-Shops vonNew-Uork war es, wo ich singen lernte von
Unterdrückung, Leid lind Elend. Bei Tage arbeitete ich,
nachts schrieb ich meine Gedichte. Die Werkstatt zerrüttete
meine Gesundheit und ich mußte die Arbeit an der Maschine
aufgegeben. Ich wandte mich der Journalistik zu und !var
durch einige Jahre Mitarbeiter der bedeutendsten nnreü-
kaiiisch-jüdischcn Blätter. ES ging mir erst besser, als die
Sammlung meiner Lieder „Konps ok tlro Oüetto” her­auskam.” …

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